Natur- und Artenschutz neu erfunden?

Unser Land hat eine neue Regierung. Der Koalitionsvertrag der drei beteiligten Parteien trägt die Überschrift „Mehr Fortschritt wagen“. Gilt diese Aussage auch für den Naturschutz?

Nach dem Koalitionsvertrag sollen artenschutzrechtliche Regelungen für die Genehmigung von „Erneuerbaren-Energie-Anlagen“ neu ausgestaltet werden, um Artenschutzkonflikte durch den Bau und Betrieb von Windkraftanlagen zu lösen (vgl. KNE Presse <www.naturschutz-energiewende.de/kompetenzzentrum/presse/pressemitteilungen>). Damit keine Zweifel aufkommen, wir halten die Klimafrage für eine globale Herausforderung, die zwar die gesamte Gesellschaft bewältigen muss, die aber national alleine nicht lösbar sein wird. Die Bedeutung des Klimawandels ist unbestritten, dies gilt aber ebenso für die Erhaltung der Biodiversität in all ihren Facetten, und dabei geht es eben um die Vielfalt an Arten und an Lebensräumen in unserem Land.

Nationale Artenhilfsprogramme, deren Finanzierung auch die Betreiber von Anlagen erneuerbarer Energien sicherstellen sollen, garantieren, dass das Artenschutzniveau nicht sinkt, sondern im Gegenteil der Schutz derjenigen Arten, bei denen es Konflikte gibt, verbessert wird (lt. Koalitionsvertrag). Neuerdings wird in diesem Zusammenhang auf eine „stärkere Ausrichtung auf den Populationsschutz“ abgehoben. Solche Aussagen haben naturwissenschaftlich weder einen Wert, noch sind sie hilfreich, wenn die verwendeten Begriffe nicht definiert werden.

Biologen definieren den Begriff Population auf einfache und eingängige Weise: Alle Individuen einer Art, die räumlich-zeitlich eine bestimmte Einheit bilden und sich zumindest potentiell miteinander erfolgreich fortpflanzen können, bilden eine Population. Bei großen Populationen, wie bspw. beim Wolf in Eurasien oder beim heimischen Schalenwild, kommt es tatsächlich nicht auf den Schutz jedes einzelnen Individuums an. Was aber, wenn es nur einen kleinen Bestand von Individuen gibt? Kommt es dann nicht bei Aufbau und Erhalt von sich selbst tragenden Populationen auf jedes einzelne Individuum an? Für eine stärkere Ausrichtung auf Populationsschutz fehlen entsprechende Lösungsansätze, zumal bei Betrachtung auf Populationsebene das Schutzniveau einer Art nicht sinken darf, so die Vorstellungen.

Es werden Windkraftanlagen in Wälder gebaut und gleichzeitig Artenhilfsprogramme für waldbewohnende Tierarten gestartet. Zu einem Waldökosystem gehören Pflanzen (insbesondere Bäume und Sträucher), Tiere, Pilze und Flechten, mithin alle dort lebenden Organismen, aber auch eine intakte abiotische Umwelt. Technische Anlagen gehören keinesfalls dazu! Was sollen Dichtezentren ausgewählter gefährdeter Vogelarten (Gebiete, in denen eine Art in größerer Anzahl vorkommt) bewirken? Solche „Quellgebiete“ sollen eine besondere Bedeutung für die Erhaltung von Populationen haben. Das sind die Vorstellungen von Politikern, die unter Zeitdruck täglich auf den verschiedenen Ebenen Entscheidungen über Naturschutzprobleme treffen, ohne die Belange der Populationsökologie zu berücksichtigen.

Forschung an freilebenden Tier- und Pflanzenpopulationen Deutschlands gibt es seit vielen Jahrzehnten. Erkenntnisse und Ergebnisse dieser Untersuchungen scheinen im heutigen Naturschutz kaum noch eine Rolle zu spielen. Ein Europaabgeordneter meinte kürzlich, beim Naturschutz ginge es nicht zwingend um das einzelne Tier, sondern man müsse vom „Individuenschutz zum Populationsschutz“ kommen. Auch der neue Wirtschaftsminister will auf Entschärfung von EU-Naturschutzrichtlinien hinwirken, sowie Regeln von Mindestabständen von Windrädern zu Wohnhäusern in Frage stellen und Genehmigungsprozesse verkürzen. Ein klares Bekenntnis zum Erhalt der Biodiversität fehlt bisher. Die Umweltministerin betont zwar die Erhaltung von Arten (Biodiversität), legt dazu aber bisher keine Lösungen vor.

Einzelne Politiker vertreten sogar die Meinung, Vögel und Fledermäuse gewöhnten sich im Laufe der Zeit an Windkraftanlagen und wichen diesen aus. Wieder andere beklagen den Verlust von Fledermäusen, Uhus oder Greifvögeln durch Windräder. Ein Vergleich mit durch Autoverkehr bedingten Verlusten an Tieren ist nicht sinnvoll, da die Raumnutzung der betreffenden Arten sehr unterschiedlich ist. Es ist auch völlig unzureichend, wenn stets nur einzelne Vogelarten und Fledermäuse genannt werden. Alle fliegenden Tiere sind durch die Vielzahl der Rotoren in einem Luftraum bis 300 m Höhe gefährdet.

Wenn Personen in jüngster Zeit äußerten: „Wenn an einem Punkt in der Nähe von Windkraftanlagen höhere Sterberaten auftreten, kann man das durch Ausgleichsmaßnahmen ausgleichen“, ignorieren sie jegliche Erkenntnis. Völlig ausgeblendet bleiben bei diesen Diskussionen die den Luftraum durchquerenden Zugvögel, Fledermäuse und Insekten. Auch bei uns durchziehende Arten benachbarter Länder und biogeografischer Regionen gilt es, im europäischen Sinne zu erhalten und den Populationsschutz zu gewährleisten.

Zentral- und Regionalplanung müssen in Zukunft viel stärker die Belange des Artenschutzes, des Wohnens auf dem Land, der Walderneuerung, der Biotopvernetzung, der Verbesserung des Landschaftswasserhaushaltes sowie der Gestaltung der ausgeräumten Agrarräume und die Reduzierung von großflächigem Energiepflanzenanbau (2,5 Mio ha Maisanbaufläche, 1,5 Mio ha Rapsanbaufläche in Deutschland) in Übereinstimmung mit den Zielen des Klimaschutzes bringen. Dabei müssen auch dezentrale Lösungen entwickelt werden, die sich an den jeweiligen regionalen Gegebenheiten orientieren.

Wie verträgt sich die Forderung, 30 % Schutzgebietsflächen im Land auszuweisen, mit der Aus- hebelung bestehender gesetzlicher Naturschutzmaßnahmen? Das rasante Artensterben erfordert nicht nur dringend Richtlinien im nationalen wie internationalen Bereich, die sich an naturwissenschaftlichen Erkenntnissen orientieren. Es muss rasch auch entsprechendes Handeln folgen!

Gilt der Satz im Regierungsprogramm, wonach das europäische Recht eins zu eins umzusetzen ist, tatsächlich, oder ist das nur ein Lippenbekenntnis?

Martin Görner, Hans-Dieter Pfannenstiel, Harald Lange (Stand Februar 2022)